Frühes Ende einer Zusammenarbeit
- Rugby-News Team
- 19. Nov.
- 7 Min. Lesezeit
Was der Abschied von Sportdirektor Steffen Große über den Zustand des deutschen Rugbys erzählt

Als Rugby Deutschland am 2. Juni 2025 die Verpflichtung von Steffen Große zum neuen Sportdirektor 7er Rugby verkündete, klang darin viel von dem an, was der Verband seit Jahren verspricht: Professionalisierung, Strukturaufbau, ein klarer Blick nach vorn auf Olympia 2028 und 2032. Nur fünf Monate später ist die Zusammenarbeit offiziell beendet. Dazwischen liegt eine kurze, intensive Phase – und eine bemerkenswerte Leerstelle: Über die Gründe herrschte lange weitgehend Schweigen.
Ein erfahrener Leistungssportmann für ein sensibles Programm
Mit Steffen Große holte Rugby Deutschland im Sommer einen Mann, der auf dem Papier nahezu ideal in das Profil eines High-Performance-Verantwortlichen passt: Studium der Sportwissenschaft an der DHfK Leipzig, Zusatzstudium am Institut für Angewandte Trainingswissenschaft, seit den 1980er-Jahren in unterschiedlichen Rollen im Leistungs- und Hochleistungssport tätig – als Trainer, Sportdirektor, Wissenschaftler. Stationen führten ihn unter anderem in die Leichtathletik und den Triathlon, in die Schweiz, nach Luxemburg und Hongkong, zuletzt war er Sportdirektor und Cheftrainer beim Bundesfachverband für Kickboxen.
Rugby Deutschland stellte ihn am 2. Juni als Sportdirektor 7er Rugby / High-Performance-Director 7er Rugby vor und knüpfte die Personalie ausdrücklich an die sportliche und strukturelle Entwicklung der 7er-Nationalmannschaften. Große selbst formulierte bei Amtsantritt, Sport müsse „mehr gestaltet als verwaltet“ werden; er sehe sich als Dienstleister mit Führungskompetenz für alle Beteiligten, mit dem Ziel, Trainings- und Wettkampfsysteme auf Weltklasse-Niveau auszubauen, Siegermentalität zu stärken und insbesondere auch den Frauenbereich weiterzuentwickeln – immer mit dem Verweis auf Olympia 2028 und 2032.
Bei der Heim-Europameisterschaft in Hamburg trat er entsprechend sichtbar in Erscheinung: als neuer Kopf des Programms bei Pressekonferenzen, in Interviews, als jemand, der von dem Anspruch sprach, deutsche 7er-Teams dauerhaft konkurrenzfähig zu machen.
Kontinuität und Bruch
Sein Amtsantritt fiel in eine Phase des Übergangs. Bis Ende 2024 hatte Manuel Wilhelm über viele Jahre das Gesicht des deutschen Leistungssports im Rugby geprägt – zunächst als Manager und Leistungssportreferent im Stab der 7er-Nationalmannschaft, später als Sportdirektor des Deutschen Rugby-Verbandes und schließlich als Vorstand Leistungssport und Vorstandsvorsitzender.
Ende 2024 verließ Wilhelm Rugby Deutschland, um Anfang 2025 die Geschäftsführung der Hockey-Bundesliga zu übernehmen. In seine Amtszeit fallen die meisten der heute vertrauten Strukturen des 7er-Programms – von der engen Verzahnung mit den olympischen Formaten über die wiederholte Ausrichtung von Turnieren bis hin zu Finals-Auftritten. Viele der heute tätigen Trainer und Funktionsträger wurden in dieser Phase berufen oder aufgebaut; auf diesen Fundamenten sollte Steffen Große nun aufsetzen.
Insofern wirkte seine Ernennung weniger wie ein radikaler Neuanfang als wie der Versuch, eine bestehende Linie mit frischer Expertise aus anderen Sportarten zu ergänzen und zu professionalisieren.
Eine knappe Meldung, viele Fragen
Am 11. November 2025 veröffentlichte Rugby Deutschland schließlich eine kurze Nachricht: Steffen Große werde den Verband „nach nur fünf Monaten im Amt“ wieder verlassen. Die Entscheidung sei den Verantwortlichen nicht leicht gefallen, nach „gemeinsamer Abwägung“ aber der richtige Schritt für die weitere Entwicklung des Verbandes. Verbandspräsident Michael Seidler dankte Große für seinen Einsatz und wünschte ihm alles Gute. Weitere Erläuterungen enthält die Mitteilung nicht.
Auf Anfrage erklärt ein Vertreter des Verbandes schriftlich, man kommentiere Personalentscheidungen grundsätzlich nicht über die auf der Website veröffentlichten Informationen hinaus. Zugleich wurde betont, dass die Aufgaben des Sportdirektors übergangsweise von mehreren qualifizierten Personen gewissenhaft übernommen würden und keine Beeinträchtigungen des laufenden Sportbetriebs zu erwarten seien – auch im Hinblick auf anstehende Maßnahmen der männlichen U18, der männlichen U20 und der Frauen-Nationalmannschaft. Man arbeite intensiv daran, die Position baldmöglichst wieder hauptamtlich zu besetzen.
Steffen Große selbst antwortet auf Anfrage höflich, aber zurückhaltend. Es sei, so schreibt er, „aktuell noch etwas zu früh“, um ein abschließendes Statement abzugeben; es gebe noch offene Themen. Zugleich stellt er in Aussicht, dass er sich zu einem späteren Zeitpunkt äußern könne, und bittet um Geduld.
Erst auf weitere Nachfragen hin teilte Verbandspräsident Michael Seidler Rugby-News.de ergänzend mit:
„Die Trennung erfolgte auf Grund unüberbrückbarer Differenzen bezüglich der organisatorischen und hierarchischen Positionierung eines Sportdirektors in einem Sportverband.“
Weitere Details nannte der Präsident nicht.
7er-Nationaltrainer Clemens von Grumbkow wollte sich zu der Personalie nicht äußern.
Damit steht eine nüchterne Zeile – „Sportdirektor verlässt nach fünf Monaten den Verband“ – einer auffallend schmalen Kommunikation gegenüber.
Was sich sagen lässt
Klar ist zunächst der zeitliche Ablauf: Anfang Juni tritt ein erfahrener Leistungssport-Experte eine ausdrücklich als zukunftsweisend beschriebene Schlüsselposition im olympischen 7er-Programm an; er vertritt den Verband öffentlich bei einem großen Heimturnier, spricht über Strukturaufbau, Kaderbreite und Olympia-Perspektiven. Im November wird die Zusammenarbeit beendet, offiziell im beiderseitigen Einvernehmen und mit Dank für die geleistete Arbeit.
Klar ist auch: Die Funktion, die Große innehatte, ist für die mittelfristige Entwicklung des 7er-Rugbys in Deutschland zentral. Sie bündelt sportfachliche Koordination, Schnittstellenmanagement zwischen Verband, Trainern, Spielern, dem Olympiastützpunkt Rhein-Neckar, DOSB und Veranstaltern, und hat maßgeblichen Einfluss darauf, wie Projekte über mehrere Saisonzyklen hinweg geplant und umgesetzt werden. Wenn eine solche Position nach so kurzer Zeit wieder vakant wird und interimistisch verwaltet werden muss, ist das für ein Programm, das sich langfristige Ziele setzt, zumindest ungewöhnlich.
Ebenfalls belegt ist, dass Rugby Deutschland in den vergangenen Jahren wiederholt mit finanziellen Engpässen, Strukturdebatten und internen Konflikten zu tun hatte – von außerordentlichen Rugby-Tagen über schmerzhafte Sparmaßnahmen im Leistungssport bis hin zu aktuellen Prüfungen des Finanzamts Hannover und kritischer Berichterstattung über Governance-Fragen.
Hinzu kommen immer wieder Spannungen im Verhältnis zwischen ehrenamtlichen Gremien und hauptamtlichem Personal, insbesondere dort, wo über den Leistungssport entschieden wird. Wer die Debatten der vergangenen Jahre verfolgt hat, weiß, dass es nicht nur um Geld, sondern auch um Zuständigkeiten geht: Wer setzt die Leitlinien, wer trägt die operative Verantwortung, wie klar sind Kompetenzbereiche abgegrenzt? Diese Fragen standen mehr als einmal im Raum und prägen das Umfeld, in dem Entscheidungen im Spitzensport getroffen werden.
Rugby Deutschland ist ein Verband, der wenig Zeit hatte, zur Ruhe zu kommen. Vor diesem Hintergrund wirkt jede weitere Unklarheit auf einer Schlüsselposition im Leistungssport sensibler als in einem völlig stabilen Umfeld. Aus dieser Perspektive erscheint die Personalie Große weniger als Auslöser, sondern eher als sichtbarer Ausdruck dieser anhaltenden Strukturprobleme.
Was offen bleibt
Seit der ergänzenden Stellungnahme von Präsident Michael Seidler ist zumindest klar, in welchem Feld er selbst die Ursachen verortet: Er spricht von „unüberbrückbaren Differenzen bezüglich der organisatorischen und hierarchischen Positionierung eines Sportdirektors in einem Sportverband“. Damit liegt der Schwerpunkt ausdrücklich auf der Frage, wie eine solche Schlüsselrolle im Verband eingebunden sein soll – organisatorisch wie hierarchisch.
Offen bleibt jedoch, wie diese Differenzen im Alltag konkret aussahen: Welche Vorstellungen standen sich gegenüber, welche Modelle der Rollenverteilung wurden diskutiert, und an welchen Punkten erwiesen sich die Positionen als „unüberbrückbar“? Weder aus der Verbandskommunikation noch aus anderen öffentlichen Dokumenten geht hervor, wer welche Vorstellungen vertreten hat und wie der Entscheidungsprozess intern verlaufen ist. Ebenso wenig ist bekannt, ob neben der hier beschriebenen Rollenfrage weitere Aspekte – sportliche, persönliche oder vertragliche – eine Rolle gespielt haben.
Noch nicht bekannt ist auch, wer die Trennung initiiert hat und wie der Prozess intern verlaufen ist. Es gibt bislang keine öffentlichen Hinweise auf konkrete Streitpunkte, keine Protokolle, in denen etwa über die Rolle des Sportdirektors diskutiert würde, und keine Aussagen aus dem Kreis der Trainer oder Athletinnen und Athleten, die Rückschlüsse zuließen.
Dass Steffen Große seinerseits von „Schwebethemen“ spricht und sich die Möglichkeit eines späteren Statements ausdrücklich vorbehält, deutet an, dass die Geschichte noch nicht zu Ende erzählt ist. Was genau hinter diesem vorsichtigen Hinweis steht, lässt sich von außen jedoch noch nicht seriös beantworten.
Eine vorsichtige Deutung – und ihre Grenze
Vor diesem Hintergrund liegt es nahe, zumindest eine allgemeine Beobachtung zu formulieren: In der Regel werden Sportdirektoren-Positionen im Hochleistungsbereich mit einem Mehrjahres-Horizont besetzt, weil Strukturaufbau, Kaderentwicklung und Kulturarbeit Zeit benötigen.
Wenn eine solche Zusammenarbeit nach fünf Monaten endet, darf man wohl annehmen, dass die neue Konstellation aus Verband, Sportdirektor und 7er-Programm nicht so zueinander gefunden hat, wie es sich alle Beteiligten im Juni erhofft hatten. Nach der Darstellung von Präsident Seidler lagen die Ursachen in „unüberbrückbaren Differenzen“ über die organisatorische und hierarchische Stellung des Sportdirektors. Aus externer Sicht fügt sich dies in das Bild eines Verbandes ein, in dem seit Jahren um Zuständigkeiten, Entscheidungswege und die Rolle hauptamtlicher Leistungssportstrukturen gerungen wird – ohne dass damit bereits gesagt wäre, welche Seite im konkreten Fall „recht“ hatte.
Mehr als eine solche vorsichtige Deutung lässt sich derzeit nicht sagen. Sie stellt lediglich fest, dass ein auf Kontinuität angelegtes Projekt sehr früh abgebrochen wurde – und dass das in einem ohnehin angespannten Umfeld umso stärker auffällt. Alle weitergehenden Spekulationen zu Gründen oder Verantwortlichkeiten wären zum jetzigen Zeitpunkt nicht zu belegen und bleiben deshalb unterhalb der Schwelle des Seriösen.
Zwischen Anspruch und Wirklichkeit
Für die Menschen, um die es am Ende geht – die Spielerinnen und Spieler, Trainerinnen und Trainer, die vielen Ehrenamtlichen in Vereinen und Landesverbänden –, zählt weniger, welcher Name auf einer Organigramm-Stelle steht, als ob das Umfeld verlässlich, planbar und professionell arbeitet. Steffen Große bringt aus anderen Sportarten genau diese Professionalität mit. Nichts, was bislang öffentlich geworden ist, legt nahe, dass er ihr nicht auch im Rugby gerecht geworden wäre.
Gleichzeitig muss sich Rugby Deutschland die Frage gefallen lassen, warum es dem Verband so schwerfällt, in zentralen Bereichen dauerhaft stabile Strukturen zu etablieren. Dass ein erfahrener Sportdirektor nach nur fünf Monaten wieder geht, passt zu dem Bild eines Verbandes, der seit Jahren um Ruhe, Klarheit und Vertrauen ringt – ohne bislang zu einer dauerhaft stabilen Struktur gefunden zu haben.
Wie schnell eine neue Person gefunden wird, wie viel Gestaltungsspielraum sie erhält und ob Verband und Sportdirektion dann über einen längeren Zeitraum gemeinsam arbeiten, wird mitentscheiden, ob die ambitionierten Ziele im 7er-Rugby mehr bleiben als wohlklingende Formeln in Pressemitteilungen. Bis dahin bleibt festzuhalten: Der Abschied von Steffen Große ist weniger ein persönliches als ein strukturelles Signal – eines, das viel darüber erzählt, wie fragil die Professionalisierung im deutschen Rugby nach wie vor ist.
Wie es weitergeht
Die Vorgänge rund um den Abschied von Steffen Große lassen sich derzeit nur aus der Außenperspektive und auf Grundlage der bislang freigegebenen Stellungnahmen beschreiben. Viele Detailfragen – etwa zur konkreten Ausgestaltung der Rolle eines Sportdirektors, zur Zusammenarbeit mit den Partnerinstitutionen wie dem Olympiastützpunkt Rhein-Neckar und zur Einbindung der Landesverbände – bleiben vorerst unbeantwortet.
Rugby-News.de wird diese Entwicklungen in den kommenden Wochen weiter begleiten und sich in weiteren Hintergrundbeiträgen insbesondere den strukturellen Rahmenbedingungen des deutschen Rugbys widmen: dem Verhältnis von Ehrenamt und Hauptamt, der Rolle des olympischen 7er-Programms und der Frage, welche Voraussetzungen ein Verband erfüllen muss, damit professionelle Strukturen nicht nur versprochen, sondern dauerhaft gelebt werden können.





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